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VISUS VISERE
kunstraum muenchen, 2011

Alles gesehen - alles verstanden?
Ilka Kreutzträger im Gespräch mit Nils Zurawski

Ilka Kreutzträger: Abschluss in Soziologie mit einer Arbeit zu Videoüberwachung (2005), freie Journalistin für taz, NDR, Spiegel Online.

Nils Zurawski: Soziologe und Ethnologe, arbeitet an der Universität Hamburg, verschiedene Forschungen zu Videoüberwachung und Überwachung ganz allgemein, Initiator des Forschungsnetzwerkes surveillance-studies.org.

Ilka: Was ist CCTV?

Nils: CCTV, Closed Circuit Television ist die englische Bezeichnung für ein in sich geschlossenes Videokamerasystem, welches benutzt wird, um zu überwachen. Also um Bilder von Dingen, Menschen, Räumen, Gegenden, Situationen zu machen und diese auf einen Monitor zu spielen. Dabei wird Es wird aber nicht wie im Fernsehen gesendet sondern die Bilder nur innerhalb des in sich geschlossenen Systems genutzt. Dieses System besteht nur aus dieser Kamera und dem Monitor, eben dem Closed Circuit Television.

Ilka: Und jemandem, der an dem angeschlossenen Monitor sitzt ...?

Nils: Und der Person, der oder die eventuell an diesem angeschlossenen Monitor sitzt und das beobachtet. Dann muss man natürlich auch schon unterscheiden zwischen Systemen, die nur aus Kamera und Monitoren bestehen und an einen Aufnahmespeicher angeschlossen sind.

Ilka: Wie in der U-Bahn zum Beispiel?

Nils: Wie in der Hamburger U-Bahn, aber wahrscheinlich wie in ganz vielen U-Bahnen weltweit, wo direkt auf der Festplatte gespeichert wird. Da gibt es dann auch keinen Monitor mehr, sondern eine Kamera und eine Festplatte, die bei Gelegenheit dann ausgelesen wird. Oder, es sitzen tatsächlich Leute vor Monitorwänden - wie man das aus Filmen oder Dokumentationen kennt - und schauen sich all die Monitore an und bewegen die Kameras. Dann ist auch entsprechendes Personal gefragt. Es gibt einfach verschiedene Qualitäten von Closed Circuit Television, die noch beliebig erweiterbar sind, zum Beispiel mit anderen Computern oder Gesichtserkennungs-Software. Potenziell ein riesiges System, welches im Grunde immer aus einer Kamera und einem Monitor oder einer Kamera und einem Empfangsgerät für die Signale der Kamera besteht.

Ilka: Das klingt erst einmal relativ unspektakulär, Kamera und angeschlossener Monitor oder Festplatte. Warum sollten wir uns damit beschäftigen?

Nils: Seit rund 20 Jahren haben diese Kameras erst langsam und dann immer schneller in unseren Städten zugenommen. Wir sehen immer mehr davon. In England noch mehr als bei uns. Die Kameras haben zugenommen und wir sehen sie mittlerweile überall. Dabei sind sie zu der Paradeantwort auf alles geworden, was in unseren Städten schiefläuft - Gewalt, Kriminalität, Jugendliche, Überfälle in der U-Bahn, antisoziales Verhalten wie es in England genannt wird, Dreck auf der Straße, kleine Rempeleien, gefährliche Gruppen oder mutmaßlich gefährliche Gruppen. Die Lösung dafür heißt immer öfter: Videokameras und wir bekommen das Problem in den Griff. Und deswegen ist es wichtig sich damit zu beschäftigen. Denn wenn man Kameras irgendwo in die Gegend stellt und Menschen oder Räume damit beobachtet - das wäre noch zu klären, was genau man damit beobachtet - dann bleibt das nicht ohne Konsequenzen für diejenigen Menschen oder die Orte, die man dort beobachtet. Man kann das nicht einfach tun und erwarten, dass sich nichts verändert. Die Präsenz der Kameras verändert Dinge.

Ilka: Aber die meisten Menschen mögen Kameras, oder?

Nils: Die meisten Menschen mögen wahrscheinlich Kameras. Die meisten Menschen würden solche Maßnahmen begrüßen und tun das auch, wie in den verschiedensten Umfragen immer wieder festgestellt wird. Von einfachen Infratest-dimap-Sonntagsfragen „Mögen Sie Videoüberwachung oder nicht?“ - bis hin zu den sehr komplizierten Analysen, zeigen, dass ungefähr zwei Drittel bis 80% immer für solche Videoüberwachungs-Maßnahmen sind und nichts gegen die Kameras haben. Typische Antworten sind häufig „Naja, macht doch nichts“, oder „Ist mir egal“ oder „Hups, hab ich noch gar nicht bemerkt!“ Der Grad der Zustimmung hängt auch ein bisschen davon ab was gerade sonst so los war. Wenn irgendwo eine Bombe hochgegangen ist und man fragt eine Woche später „Was halten sie von Videoüberwachung?“, dann sind es wahrscheinlich eher 80-90%, die sagen „Das ist eine super Idee!“ Wenn lange nichts passiert ist, dann pendelt sich das so ein bisschen ein und es sind vielleicht 50-60%.

Ilka : Woran liegt das? Die meisten Leute wollen vor ihrer Haustür ja nicht unbedingt eine Kamera haben. Woanders aber dann schon.

Nils: Wenn man die Fragen komplizierter stellen würde, als es landläufig gemacht wird und man würde fragen „wie ist das hier vor ihrer Haustür?“, dann würde sich das Bild umkehren. In der eigenen Straße, vor der eigenen Haustür möchten nur ganz ganz Wenige haben. In unserer eigenen Umfrage vor Jahren waren es 75%, die dieses ablehnten. Das Warum ist unheimlich schwierig zu beantworten. Die Gründe sind sehr vielfältig. Zwei Sachen kann ich aber festhalten:

Die Ablehnung gegen Kameras ist oftmals sehr kategorisch, die Menschen möchten einfach nicht beobachtet werden. Die Unterstützung für Kameras, entsteht oftmals durch ein sehr persönlich gefärbtes Bild. Also wenn jemand sagt „Ich finde das gut“, hat diese Person eine konkrete Idee welchen Ort und welche Leute überwacht werden sollen. Auf die pauschale Frage „Finden Sie das gut oder schlecht?“ wird mit „Ja“ geantwortet, gemeint ist aber „Ja“ - und in Klammern: „Genau dort an diesem Ort könnte ich mir das vorstellen, dafür wäre das eine super Sache.“

Das wird aber nicht gefragt, also muss man auf eine pauschale Frage antworten. Daraus ergibt sich dann im Grunde genommen eine falsche, zumindest aber undifferenzierte Antwort. Die positive Bejahung und Unterstützung von Videokameras beruht so auf einer sehr persönlichen Idee von bestimmten Orten, die nur nicht genannt werden. Während das „Nein“ eher kategorisch ist.

Daraus ergibt sich, dass die eigentlichen Gründe oftmals nicht nach vorne kommen, sondern im Diffusen bleiben. Und mit diesem Diffusen kann man aber wunderschön Politik machen, in dem man sagt: „Sehen Sie? Die Leute fühlen sich in ihrer Sicherheit verletzt.“ Das vielzitierte (und missbrauchte) subjektive Sicherheitsgefühl kommt so in die Diskussion.

Ilka: Was genau soll denn das sein?

Nils: Im Grunde genommen beschreibt es das, wovor jemand Angst hat, ohne es genau benennen zu können. Es ist das diffuse Gesamtgefühl, welches sich aus den Ängsten einer Vielzahl von Bürgern speist. Jeder ängstigt sich aber vor etwas anderem, einiges überlappt sich auch. Jeder hat wahrscheinlich Angst davor von einem Auto auf einer Kreuzung umgefahren zu werden.

Jeder hat Angst davor, dass ihn der Blitz trifft, was nicht sehr häufig passiert. Jeder hat Angst davor, dass - nehmen wir Eltern - ihren Kindern etwas passiert. Jeder hat Angst vor Krankheit. Nicht jeder hat aber immer vor allem gleichzeitig Angst. Nicht jeder hat unbedingt Angst vor dunklen Straßen, sondern andere genießen es auch nachts über den Friedhof zu gehen. Für andere würde wahrscheinlich die Vorstellung davon ausreichen, um Schüttelfrost zu bekommen. Einige Leute finden sie besondere Gegenden in der Stadt unsicher, Wieder andere haben damit kein Problem.

Die Gründe, warum Menschen bestimmte Orte meiden oder bestimmte Orte aufzusuchen und bestimmte Menschen Orte meiden und andere Orte aufsuchen kann man ganz gut erklären. Aber das subjektive Sicherheitsgefühl ist so als empirische Größe nicht zu fassen. Es gibt wahrscheinlich ein geteiltes Unsicherheitsgefühl davor Opfer einer Straftat zu werden - je gewalttätiger, je mehr. Es gibt viele Gründe Angst zu haben - vor Arbeitslosigkeit, vor Umweltschmutzung bis hin zum Verlust einer geliebten Person. Aber Gewaltverbrechen auf der Straße - Verletzungen, Überfälle, die Bedrohung mit dem Tod, vielleicht mit Waffengewalt - davor haben viele Menschen direkt Angst - auch ohne es je selbst erlebt zu haben.

Und das ist dann das subjektive Sicherheitsgefühl, welches beeinträchtigt wird ohne es allerdings genau zu wissen. Woher die Politik das weiß, ist nicht ganz klar. Es wird gesagt „Es ist da.“ oder „Das Sicherheitsgefühl ist gestört.“ und wir verbessern es mit Videokameras. Und Videokameras eignen sich rhetorisch und diskursiv ganz exzellent dazu Sicherheitsgefühle zu stärken.

Ilka: Offenbar ja auch besser als zum Beispiel Dinge, wie ein biometrischer Ausweis. Oder andere Dinge, die eingesetzt werden, um die Sicherheit oder die Kontrolle zu verbessern. Scheinbar hat die Kamera einen besonderen Reiz, sowohl für diejenigen, die damit Politik machen, als auch für diejenigen, die sie nachher sehen und sich davon beschützt fühlen. Warum hat gerade die Kamera so eine Karriere gemacht?

Nils: Also biometrische Reispässe oder RFID-Chips in der Logistik, in Preisschildern oder um zu sehen, wo mein Hundes so ist, sind nicht besonders sexy. Ein Pass ist nicht sichtbar. Den hat man in der Tasche. So eine Kamera ist deutlich sichtbar, und macht gewissermaßen etwas her. Kameras haben eine fast magische Ausstrahlung. Sie nehmen irgendetwas auf. Unsere Gesellschaft ist komplett auf Bilder ausgerichtet, wir sehen alles. Seit etwa 100 Jahren, seit der Entwicklung von Kameras und der Entstehung des Kinos sind unsere visuellen Sinne - ich möchte fast sagen - überbewertet. Wir sind gewohnt alles zu sehen - früher im Kino, inzwischen im Fernsehen, wir haben live-Bilder, wir können über große Distanzen in Echtzeit dabei sein. Die Mondflüge haben uns unsere Erde von oben gezeigt, das Bild unserer eigenen Existenz. Und alles ist visualisiert.

Das Visuelle verspricht Wahrheit. Alles, was auf einem Bild ist, bedeutete jahrelang: das ist auch genauso passiert. Das ist wahr. Das, was wir sehen - gerade im Bereich von Fernsehen, Dokumentation und Berichterstattung - das ist das, was wirklich passiert ist, was wahr ist. Wir brauchten relativ lange, um zu erkennen, dass man auch mit Dokumentation und mit echten Bildern, Geschichten erzählen kann, die eine andere Wahrheit erzählen, als das was man vielleicht auf dem Bild sieht. Dennoch glaube ich, dass Videokameras - sobald sie irgendwo in der Öffentlichkeit hängen und sichtbar sind - dieses Versprechen in sich tragen. Hier wird überwacht im Sinne von: Hier wird auf dich aufgepasst. Und die Kamera zeichnet alles auf und das, was sie sieht ist das, was passiert und sie kann nicht lügen. Du kannst dich also sicher fühlen, denn im Zweifel sehen wir alles und können nachher nachvollziehen, was dir passiert ist. Das ist das Versprechen, das eine Kamera gibt. Deswegen ist sie so unheimlich sexy, und darum werden Kameras angenommen.

Und darum ist die Kamera für viele Politiker das Mittel der Wahl um zu zeigen: Ihr habt ein Problem, wir haben die Lösung. Alles, was auf der Straße passiert, können wir hiermit lösen. Bei Grenzkontrollen sind selbstverständlich Pässe effizienter, aber das ist eine ganz andere Art von Raum und von Überwachung. Kameras im öffentlichen Raum, das ist das was passiert. Wir gucken zu. Wir müssen aber nicht überall dabei sein! Sondern wir tun es versteckt. Also die Polizei sitzt nicht da, um den Platz rum und guckt den ganzen Tag, sondern sie bringt Kameras an, die so im Bewusstsein der Bürger mutmaßlich in den Hintergrund rücken

Ilka: Aber eben nur mutmaßlich. Eigentlich wird man quasi nicht vis-à-vis beobachtet. Aber es ist ja nicht so, dass eine Kamera völlig wirkungsfrei im Raum hängt.

Nils: Nein! Das Problem ist, dass wir nicht wissen wie genau Kameras wirken

Zwei Grundannahmen könnte man machen: Kameras verhindern, dass etwas passiert, weil dort Kameras hängen und potentielle Täter die Kamera sehen und wissen: „Die filmt mich jetzt und ich kann nicht tun, was ich vorhabe.“ Und lässt es sein. Das wäre super. Dann würde das alles nicht passieren.

Die zweite Annahme ist: Die Kamera filmt einfach und alle tun das, was sie immer tun. Und all das, was abweichend ist, was strafbar ist, was nicht gefällt, schauen wir uns nachher an, finden die Leute und bestrafen sie. Das sind die zwei Grundannahmen, mit denen man Kameras bewerten kann. Das erste Problem ist: Man kann Prävention schlecht messen. Wir wissen nicht, was es genau verhindert hat. Wenn wir uns die Kriminalitätsstatistiken angucken wissen wir nicht: Ist die Kamera der einzige Grund, warum etwas nachgelassen hat?

Ilka: Zumal ja oft ein komplettes Konzept drum rum gestrickt wird. Es wird ja selten einfach nur eine Kamera aufgehängt, sondern es gibt dann noch verstärkte Streifen und andere Maßnahmen, mit denen dem „gefährlichen“ Raum mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Nils: Der gefährliche Raum. Also etwas wird als gefährlich gekennzeichnet, was man vielleicht vorher als problematisch oder in dem Moment als problematisch erkannt hat. Alle Aktivitäten werden auf diesen Raum gerichtet. Es wird so überhaupt erst ein besonderer Raum geschaffen und die Kameras beobachten dann genau diesen Raum. Nicht links nicht rechts, sondern genau das. Und die Aufmerksamkeit - durch Streifen, durch private Sicherheitsdienste, durch Polizei, durch vermehrte Aufmerksamkeit vielleicht auch, weil man etwas beweisen möchte - potenziert sich, sodass ein besonderer Raum da,oft erst geschaffen wird. Videoüberwachte Räume sind anders als der Raum vorher je war. Vorher war es einfach nur ein Ort und jetzt ist es ein Ort mit einer Kamera.

Es gibt Orte mit Kameras und Orte ohne Kameras und die haben Grenzen. Man wird also überwacht innerhalb und man wird nicht überwacht außerhalb. Die Kamera interessiert sich im Grunde wenig für den einzelnen Menschen.

Es geht nicht um einen speziellen Menschen, sondern es geht um alle Menschen, die zu dem Zeitpunkt den Ort, der überwacht wird, durchqueren. Um deren Verhalten, auf den - was auch immer - 150 Metern. Das heißt also, dass es plötzlich auf der Welt einen Ort gibt, an dem bestimmte Dinge gelten, von denen keiner weiß wie sie genau gelten. Und die galten vorher nicht oder wurden nicht nachgefragt und die gelten nachher wieder nicht und werden nicht nachgefragt. Niemand kümmert sich um mich - vorher und nachher nicht. Nur während ich da drin bin.

Und auch nur dann, wenn ich ein Verhalten an den Tag legen, das nicht konform geht mit den Regeln, die in diesem Raum besonders gelten oder besonders nachgefragt werden. Das heißt nicht, dass alles was abweichend ist unbedingt auch zu einer Kontrolle oder zu einer Aufmerksamkeit führen muss.

Ilka: Also Müll wegwerfen kann ok sein, aber jemanden auf die Mütze hauen ...

Nils: ... kann nicht ok sein. Genau! Das weiß ich aber nicht unbedingt. Ich kenne die Normen nicht, die gelten. Worauf achten die Personen hinter den Kameras? Was steht heute auf der Tageskarte? Der Raum wird zu etwas Besonderem gemacht. Und wenn es ganz viele davon gibt, die vielleicht auch noch unterschiedlich funktionieren, ist damit unheimlich schwer umzugehen. Und da bleibt es nicht aus, eine Wirkung auf den städtischen Raum zu haben, wo ich mich fragen muss, wie ich bestimmte Orte nutzen kann? Wo kann ich mich wie benehmen? Muss ich Orte meiden? Will ich Orte meiden? Wenn ich mir diese Fragen nicht stellen will, wird mir quasi aufgezwungen, dass ich mich um diese Orte herumbewege. Mein Mobilitätsverhalten wird beeinflusst. Wird dadurch auch meine Einstellung zu einem Ort verändert? Es kann sehr gut sein, dass Menschen denken, eine Kamera weise darauf hin, dass dieser Ort besonders gefährdet ist. Die Kamera könnte der Hinweis dafür sein.

Ilka: Laut Definition der Polizei ist es ja auch tatsächlich so. Diese werden nur an Orte gehängt, die vorher als gefährlich oder als Brennpunkt eingestuft werden.

Nils: Aber gefährlich für wen? Gefährlich für mich, der da jetzt durchgeht und davon gar nichts weiß? Gefährlich aus Sicht der Polizei, nachvollziehbar oder nicht? Was ist ein sozialer Brennpunkt? Hängen Kameras demnächst auch an Orten, wo man vermutet, dass aufgrund sozialer, wirtschaftlicher, bildungsabhängiger Umstände die Menschen vielleicht nicht über Ressourcen verfügen wie sie die Mittelschicht hat und deswegen eher kriminell werden? Vorausschauend sozusagen?

Die Kriterien, warum ein Ort gefährlich ist, sind nicht immer klar. Und würde man die Menschen fragen, die in einem der sozialen Brennpunkte leben „fühlt ihr euch sicher oder unsicher?“, würden sie eher sagen „Wir fühlen uns hier sicher.“ Das hat damit zu tun, dass sie dort jeden Tag sind und sich auskennen. Also es kommt immer darauf an. Aber man fragt natürlich nicht die Leute, die da leben, sondern beschließt normativ von oben „Das ist ein gefährlicher Ort“.

Ilka: Es kann also sein, dass ein gefährlicher Ort einmal etwas ist, an dem viele Fahrräder geklaut werden und man das einfach unterbinden möchtew. Und ein gefährlicher Ort kann auch eine Schule sein, wo der Schulleiter mit seinen Schülern nicht mehr zurecht kommt und lautstark nach Kameras ruft, um seine Schülerschaft ein bisschen zu zähmen.

Nils: Das sind zwei schöne und typische Beispiele. Bei dem Beispiel mit den Fahrrädern, böten sich Videokamera-Systeme in der Tat an das Problem zu lösen. Fahrräder sind wie in einem Parkhaus abgestellt, stehen in Fahrradständern und machen eigentlich den ganzen Tag nichts. Man stellt sie morgens hin und und dann tun sie acht Stunden eigentlich nichts. Die Fahrräder stehen rum. Das heißt alles, was dann dort passiert, ist relativ klar überschaubar. Entweder schließt jemand das Schloss auf und fährt weg, oder jemand macht sich an den Fahrrädern zu schaffen, beschädigt sie, vandalisiert sie, bricht Schlösser auf, lässt die Luft aus den Reifen, klebt Werbezettel an oder ähnliches. Die Grenze zwischen dem, was man erlaubt und was man nicht erlaubt ist relativ fein und gut beobachtbar. Überwacht werden die Fahrräder und nicht die Menschen in ihrem Verhalten. Das ist von der Funktion her ein sehr übersichtlicher Raum. Videoüberwachung würde vielleicht dabei helfen den Fahrradklau an einem bestimmten Fahrradständer zu reduzieren. Und es ist auch eine klare Botschaft: Wir beobachten dich. Und die Beobachtung ist immer kurz. Und die Aktion ist immer eindeutig: Aufschließen, wegfahren, hinfahren, anschließen, weggehen. Man macht kaum mehr. Anders als auf anderen öffentlichen Plätzen.

In der Schule liegen die Lehrer oder der Schulleiter meiner Meinung nach völlig falsch. Die Probleme an der Schule unterscheiden sich vom Fahrradklau und die muss der Schulleiter auf eine ganz andere Art und Weise lösen. Allein die Androhung:„Wir sehen euch und können euch deshalb bestrafen“ wäre ja nur ein neues System der Bestrafung, das offensichtlich bisher auch nicht gezogen hat. Man kann die sozialen, pädagogischen und Kommunikations-Probleme miteinander, die der Schulleiter an seiner Schule sieht, mit den Kameras nicht lösen. Man müsste alle Schüler überwachen, würde damit 100% unter einen Generalverdacht stellen, von denen 90% nie etwas gemacht haben, nie etwas ausprobieren zu machen. Und sie werden nicht nur beim Fahrrad abschließen in eindeutigen Situationen gefilmt, sondern quasi in ihrem kompletten sozialen Leben in der Schule. In der Pause, beim Techtelmechtel, vielleicht beim Streiche aushecken. Bei allem, was auch akzeptiert in der Schule stattfindet: bei Geheimniskrämereien, beim Lästern über Lehrer, beim verbotenen Rauchen. Alles Dinge wo man fragen muss: „Rechtfertigt das wirklich eine Kamera oder gehört das dazu?“ Straftaten, Gewalt oder Mobbing in der Schule muss man auf andere Art und Weise lösen.

Zwei Fälle, wo die Kamera beide Male als Lösung vorgeschlagen wurde. In einem Fall sind sie kompletter Unsinn und im Anderen könnte es sinnvoll sein, wenn man es ordentlich und vielleicht begrenzt macht. Das hat mit der Art und Weise zusammen, wen und was man überwacht und wie man es tut.

Ilka: Du nennst das was Kameras tun feedback loops - was genau soll das sein?

Nils: Das hängt mit der Kennzeichnung eines gefährlichen Ortes zusammen. In ganz vielen Polizeigesetzen wird gesagt: Kameras dürfen nur an Kriminalitätsbrennpunkten stehen. Es wird nirgends genau definiert, was ein Kriminalitätsbrennpunkt ist, sondern es wird gesagt „an dem mehr als einmal eine Straftat stattgefunden hat“. Das kann so ungefähr überall sein. Nehmen wir mal an, dass es eine Häufung ist, die mehr als zwei Mal ist. Dann wird gesagt: Das ist ein Kriminalitätsschwerpunkt, da müssen wir Kameras hinhängen. Durch die Kameras sieht man aber mehr. Man sieht vielleicht auch Dinge, von denen vorher man gar nicht ahnte, dass sie da stattfanden. Die Kamera beweist also, dass die Entscheidung die Kamera dort aufzustellen, richtig war. Nun werden Kameras nicht einfach heimlich aufgestellt. Das ist A verboten, B würde es hier wenig bringen. Sie werden gewissermaßen angekündigt. Kameras funktionieren dann - wenn überhaupt - am Besten, wenn davon geredet wird. Der Diskurs wird erweitert und es wird mitgeteilt warum sie installiert werden, nämlich weil dieser Raum gefährlich ist. Nun sehen die Menschen dass da Kameras hängen, der Raum ist als gefährlich erkennbar.

Nun kann man sich fragen, ob Kameras da hängen, weil der Raum so gefährlich ist oder die Kameras den Raum erst gefährlich machen. In der Wahrnehmung und der Begründung kommt es zu einer Abwechslung der Argumente, wobei nicht mehr ganz klar ist warum die Kameras dort eigentlich hängen. Und letztendlich kann man sagen, die aufgehängte Kamera begründet ihre Existenz an diesem Ort durch sich selbst. Dadurch, dass sie da hängt zeigt sie, dass sie da unbedingt hängen muss.

Ilka: Schlau gemacht eigentlich.

Nils: Das ist durchaus schlau gemacht und man kommt auch nicht so schnell dahinter. Und erst in vielen Interviews mit Bürgern, Passanten auch der Polizei kristallisierte sich heraus, dass die Wahrnehmung von der Kamera und die Kennzeichnung als kriminell oder strafbar fast austauschbar bzw. kaum auseinander zu halten ist. Eine Kamera begründet sich dadurch, dass sie existiert. Experimente, mit denen man schaut ob die Kamera wirklich entscheidend ist, leisten sich die Verantwortlichen nicht. Damit würde - so das Argument - das Vertrauen der Menschen verloren gehen. Letztlich ist es ein Totschlagargument. Und dieser feedback loop beschreibt einfach nur die sich selbst erfüllende Prophezeiung. In diesem Fall die sich durch ihr Dasein selbst begründende Kamera.

Ilka: Werden eigentlich Kameras von der Polizei in irgendeiner Art und Weise begleitet durch so etwas wie Ausweisung eines Vergleichsgebietes? Um tatsächlich schauen zu können: Tut sich hier irgendwas mit den Kameras oder nicht?

Nils: Sehr selten. Die meisten Kamerainitiativen werden beschlossen, dann werden sie mit großem Elan und viel Presse installiert. Und dann wird nach einem Jahr geguckt, was sich verändert hat. Es wird ganz selten eine „Situation Null“ definiert an der man zukünftige Entwicklungen vergleichen kann. Und das führt dazu, dass man eine Evaluation aber keinen Vergleich über Zeitäume hat, in denen keine Kameras hingen. Das kaum Vergleichsgebiete ausgewiesen werden hat wahrscheinlich auch mit den Kosten zu tun, mit Umständen und Arbeit. Man müsste in allen Gebieten verschiedene Zeiträume beobachten. Evaluationen sind so immer nur Momentaufnahmen: Wie war es heute? Wie war es an jenem Tag? Es werden keine Ziele definiert, es wird nicht gefragt, was man eigentlich erreichen will. was gemessen werden soll. Aus Wissenschaftler-Sicht ist das alles mit heißer Nadel gestrickt, positiv formuliert. Eigentlich ist das alles Quatsch. Und eigentlich ist es das Papier nicht wert, auf dem es steht. Und es ist politisch gewollt, es wird politisch durchgesetzt und es sind politische Argumente und keine empirisch-wissenschaftlichen Argumente, mit denen das begleitet wird. Wenn man das aber weiß, kann man damit herrlich arbeiten und umgehen. Wenn man das aber nicht weiß und solche Evaluationen als empirisch-wissenschaftlich fundiert ansieht, ist man natürlich bitter enttäuscht, bzw. wird auf einen ganz falschen Pfad geleitet.

Ilka: Du sagst auch, dass Kameras bestimmte Weltbilder erzeugen.

Nils: Der Ursprung der Idee der Weltbilder war zu fragen: Wenn man die Welt durch eine Kamera betrachtet, wie sieht sie dann für uns aus? Was macht den Unterschied zur Betrachtung einfach so? Aber die Grundidee dabei ist natürlich, dass wir die Welt immer in irgendwelchen Ausschnitten betrachten, die uns einen Rahmen geben. Wir suchen uns solche Rahmen, durch die wir eine Welt sehen können - Ideologien, Religion usw.. Obwohl wir mit offenen Augen alles sehen könnten, wenn wir so in der Welt rum marschieren, haben wir natürlich immer eine bestimmte Brille auf. Wenn jetzt hinter den Kameras Menschen sitzen, die diese Welt anschauen, dann sehen sie die Welt in spezieller Weise gerahmt. Sie sehen einen Ausschnitt und es könnte natürlich sein, dass das ihr Bild von der Welt prägt.

Wenn man Polizisten fragt wie die Welt aussieht, ist sie natürlich voller Kriminalität. Weil das Meiste, womit sie in ihrem beruflichen Leben zu tun haben, Kriminalität ist. Und wenn man das sieht, dann sieht natürlich alles auch aus wie abweichendes Verhalten, wie Kriminalität. Wenn man durch eine Kamera guckt und nur darauf achtet, was Menschen falsch machen, und besonders auf bestimmte Menschen scahut, die etwas falsch machen, dann könnte es sein, dass das Bild, das man von der Welt hat, sich daran ausrichtet. Es ist ja nicht von vornherein festgelegt, auf was geachtet werden muss.

Wenn man also Kontrolleure hat, die durch die Kamera gucken, muss man denen vorher sagen: Ihr müsst auf das und das und das achten. Denn das sind die Sachen die schlimm in unserer Gesellschaft sind oder die schlimm an dem Ort sind. Es werden Parameter aufgestellt. Diese Parameter werden befolgt, z.B. schaut bitte auf Jugendliche, schaut auf ausländische Jugendliche. Und je mehr man das macht, desto mehr wird man wahrscheinlich auch bestätigt. Oder das man öfter einfach Jugendlich herauspickt und sich die genau anguckt. Oder wenn man noch eine Streife zur Verfügung hat, dass man diese Jugendlichen anhält und sie anguckt. Das führt bei den Jugendlichen eventuell dazu, dass sie merken, dass sie einen schlechten Ruf haben oder eben bei gewissen Leuten einen schlechten Ruf haben und sich entsprechend benehmen oder marginalisiert werden. Es führt aber bei den Leuten, die beobachten dazu, dass die Sichtweise, die Parameter, die ihnen vorgegeben worden sind, sich zu ihren eigenen entwickeln und sich immer wieder selbst bestätigen. Sie suchen nach etwas, es bestätigt sich, sie finden es und genauso sieht es aus. Und dann haben sie natürlich - ähnlich wie bei den Kameras - den Grund diese Leute zu beobachten, weil es einmal zugetroffen hat, in so einem Kreislauf.

Dieser Kreislauf hat weitere Konsequenzen: Da das nicht unkommuniziert bleibt - also Videobilder von Kameras in die Welt posaunt oder auf Youtube gezeigt werden usw., wird dabei immer mittransportiert, was genau gesucht wurde, was gefunden wurde und welche Gruppen Ziel dieser Aktionen sind. Was dann heißt, dass sich die Weltbilder, die Parameter, der Menschen hinter den Kameras weitere Kreise ziehen und sich weiter in der Gesellschaft verfestigen Nehmen wir mal die Jugendlichen zwischen 15 und 25, vielleicht mit Migrationshintergrund. Das sind die Besonderen, auf die man achten muss. Und die sieht man dann vielleicht auf einem Bild in der Kamera, gezeigt auf vielen Webseiten, bewegten Bildern, scheußliche Bilder wie neulich in der Berliner U-Bahn. Das ist nicht schön, aber es ist auch nicht alles, was wir an Jugendlichen haben, sondern wir haben viel viel mehr.

Ilka: Aber es sieht dann so aus! So als wären sie ein Stellvertreter für alle Jugendlichen!

Nils: Genau! So sind alle unsere Jugendlichen. Und das formt natürlich unser Bild, unser Weltbild, den Ausschnitt durch den wir die Welt sehen, auf die Jugendlichen, auf unsere Gesellschaft. Und die Kamera und dieses ewige Wiederholen der Bilder führt dazu, dass sich das verstetigt. Und irgendwann führt es auch schon dazu, dass wir die Bilder gar nicht mehr brauchen, sondern einfach eine Kamera sehen und sagen: Aha, die steht da weil.... und dann beginnt ein innerer Film: Jugendliche, Gefahr, Überfall, Brutalität, Ausweichen, Angst haben.

Oder aber wir haben gar keine Bilder in eigentlichen Sinn und sehen nur Jugendliche und der Film geht von vorne los. Ausgelöst von den Bildern, die wir einmal gesehen haben. Und das ist das, was ich meine, dass Kameras ihre eigenen Bilder auch erzeugen. Nicht nur das, was sie aufnehmen und auf ein Speichermedium spielen, sondern dass sie Bilder und Assoziationen aussenden und erregen, die mit bestimmten Bildern verbunden sind. Außerdem bieten sie sich gleichzeitig als Projektionsfläche, als Leinwand für bestimmte Vorstellungen und Ängste, an.

Auf die Kamera wird die eigene Angst projiziert mit der Aufforderung, diese zu lösen. Ich habe Angst vor Jugendlichen und beauftrage die Kamera, welche ja für diese da ist. Oder ich habe Angst vor irgendetwas in meinem Leben, projiziere das auf die Kamera, die mir dann als Angebot macht: Jugendliche könnten dein Problem sein, ich beobachte sie für dich. Also einmal senden sie Bilder aus, und das andere Mal ist die Kamera die große Leinwand, auf die ich alle meine Ängste projizieren kann, und die das dann schon irgendwie lösen wird.

Ilka: Die Kamera als Alleskönner?!

Nils: Ja, sozusagen Alleskönner. Dabei können sie eigentlich nur Bilder aufnehmen. Und wer schon einmal fotografiert hat weiß, dass Kameras nicht alles können. Aber, das Bilder unheimlich viel mehr können als die Kamera selbst. Und die Suggestionskraft von Kameras so viel größer ist, dass es scheint, als könnten sie alles. Und - was man im englischen als quick fix beschreibt - dass sie die schnelle Lösung für alle möglichen Probleme sind, weil sie scheinbar alles können. Aber eigentlich können sie nur Bilder aufnehmen. Die Frage ist, ob sie außer dem Sehen auch immer alles verstehen können.

Ilka: Jetzt haben wir die ganze Zeit darüber gesprochen, was Kameras mit den Orten machen, mit den Räumen machen, in denen sie hängen. Sie machen aber vermutlich auch was mit den Menschen, die gefilmt werden?

Nils: Die große Frage ist immer: Verändern Kameras das Verhalten der Menschen? Es gibt - soweit ich weiß - keine psychologischen Untersuchungen darüber, ob Kameras tatsächlich dazu führen, dass sich Menschen Norm-konformer verhalten oder anders verhalten, als sie es sonst tun würden. Es gibt wenig, das zeigt, dass Menschen bestimmte Dinge nicht mehr tun. Der Effekt könnte sein, dass wenn Menschen eine Kamera direkt wahrnehmen und sich ertappt fühlen, sie bestimmte Dinge nicht mehr tun. Und wir haben Aussagen in Interviews, die ich gemacht habe, dass Menschen sagen: Ich würde dann meinen Freund in der U-Bahn nicht küssen. Das wäre mir peinlich vor der Kamera. Die Frage ist: Warum ist es ihr peinlich vor der Kamera? Warum ist es ihr nicht peinlich vor den 20 anderen Fahrgästen? Vielleicht hat das damit zu tun, dass man die anderen Fahrgäste sehen kann und es einschätzen kann. Dieses Hin und Her. Also ich kann den Blick erwidern. Der Blick ist nicht tot, der Blick ist nicht einseitig, sondern ich kann jemanden angucken. Das mag auch nur ein Einzelfall sein, aber zumindest war es sehr bezeichnend.

Also wenn die Kamera besonders auffällt und man irgendetwas gemacht hat, wobei man sich vielleicht peinlich ertappt fühlt, könnte es sein, dass man das sein lässt. Aber es gibt dazu keine Untersuchungen. Wie wirken Kameras? Was machen Kameras? Man könnte sagen, was Kameras in der Tat wirklich tun, ist: sie lassen einen nicht länger anonym erscheinen.

Und je länger man darüber nachdenkt, dass auf einem Platz Kameras sind und einem das nicht egal ist, dass jemand zuschaut, den ich nicht sehe, und dass mein Verhalten für alle Ewigkeiten auch festgehalten wird, dann ist das gefährdet, was wir mit Anonymität bezeichnen. Ich bin im öffentlichen Raum und da möchte ich sein. Aber ich möchte unerkannt dort sein. Ich möchte an Menschen vorbeigehen, die ich nicht kenne. Ich möchte nicht angesprochen werden von denen. Ich möchte nicht abends von irgend jemanden mit einem „Ach, du warst da und da. Soll ich dir das noch einmal vorspielen?“ begrüßt werden. Ich möchte anonym bleiben. Und ich möchte auch so anonym bleiben, dass ich mich hinstellen kann und lauthals schreien kann „Die Welt ist doof! Ich mag meinen Bürgermeister nicht! Die Polizei ist ungerecht!“

Ilka: Das kannst Du tun. Das ist dir unbenommen.

Nils: Ich möchte das tun, aber ich möchte das tun ohne anschließend zu sagen „Mein Name ist Nils Zurawski und ich wohne da und da.“

Ilka: Das weiß die Kamera ja aber nicht. Also wenn du dich jetzt hinstellst und rufst „Mein Name ist Nils Zurawski und ich hasse alle Menschen!“, dann kann sie das natürlich aufnehmen - wenn sie denn mit Ton aufzeichnet.

Nils: Ja aber, dann ist es nicht nur flüchtig. Menschen würden an mir vorbeigehen und mich angucken und sagen „ du bist ein Spinner?“. Und dann würden sie weitergehen. SIe haben viel Wichtigeres in ihrem Leben zu tun, als das sie sich darüber den Kopf zerbrechen müssen. Wenn aber jetzt solche Kamerabilder ausgewertet werden würden - auch von flüchtigen Begegnungen - dann ist es nicht mehr anonym. Dann steht da einer. Und man könnte nachschauen, was da eigentlich los ist. Und es würde wahrscheinlich wenig Arbeit bedeuten mich rauszufinden. Und meine Anonymität wäre in dem Sinne hin, dass es dann Menschen gibt, die sich darüber Gedanken machen: Was hat er gesagt? Wer ist das? Wollen wir das weiter verfolgen oder nicht? Und nicht nur den Kopf schütteln und sagen...

Ilka: Wenn du deinen Namen aber nicht sagst, weiß die Kamera ja im Zweifel nicht wer du bist und wo du wohnst und wie alt du bist.

Nils: Nee, aber meine Bilder sind gespeichert. Zumindest eine visuelle Anonymität ist dann nicht mehr gegeben. Es gibt ein Bild von mir. Und wenn ich woanders auftauche, gibt es vielleicht wieder ein Bild von mir. Das Problem ist dabei ja auch nicht die eine Kamera, das eine System, sondern die Vernetzung vieler Kameras, vieler Systeme - auf einem Platz, in der Bank, dem Kaufhaus, der Autogarage, dem Fahrradständer, in der Kneipe, vor dem Zigarettenautomaten, über die so ein Bild von mir erstellt werden kann. Ich kann nicht mehr anonym Zigaretten holen, anschließend Auto fahren, gleichzeitig Sport machen und mein Geld holen usw.. Sondern alles würde in einen Zusammenhang gestellt. Es wird verbunden. Und man sieht mein Gesicht immer und immer und immer wieder. Und man fertigt ein Profil von mir an. Damit bin ich nicht mehr anonym. Selbst wenn man noch nicht weiß, wo ich wohne, ist diese Person, die man dort hat, nachvollziehbar in ihrem Leben. Und damit bin ich nicht mehr anonym. Meine visuelle Anonymität ist hin und auch meine Anonymität dort, wo ich mich aufhalte. Und wenn das wieder und wieder und wieder passiert - so wie wir alle in Regelmäßigkeiten stecken - dann sind das nicht nur Profile, sondern auch immer wiederkehrende Muster. Damit bin ich nun nicht mehr anonym. Dann braucht man nur noch dort auf mich zu warten. Oder man kann sich eins und eins zusammenzählen und bestimmte Schlüsse daraus ziehen. Und das verletzt das, was ich in der Öffentlichkeit sein will: anonym. Zuhause will ich nicht anonym sein. Zuhause habe ich meine Freunde, meine Frau, meine Kinder. Jeder, der hierher kommt kennt mich, oder die meisten, die hierher kommen kennen mich. Für die bin ich auch nicht anonym. Da will ich ja auch, dass sie mich kennenlernen!

Ilka: Die lässt du ja auch rein.

Nils: Die lasse ich rein. Die Leute, die ich nicht reinlassen will, für die bleibe ich eben anonym. Oder zumindest in meinem Menschsein anonym. Die wissen zwar, wo ich wohne, aber wissen natürlich nicht, wer ich sonst bin. Aber wenn ich auf die Straße gehe, will ich all das andere haben. Die Frage, die man sich dann stellen muss ist: Wie viel von der Privatsphäre nehme ich mit in die Öffentlichkeit? Das Private ist nicht nur zu Hause privat. Es gibt einen bestimmten Teil von uns und unserer Identität, den wir immer mit uns rumtragen und der sehr privat ist. Zu dieser Privatsphäre gehört auch, dass wir nicht angefasst werden. Also, dass wir körperlich unversehrt bleiben, dass wir so eine Art Schutz - oder zumindest Abstandsmantel um uns und mit uns herumtragen. Das kennen wir selber, wenn wir Leuten in bestimmten Situationen zu nahe auf die Pelle rücken.

Ilka: Das ist mein Tanzbereich, das ist dein Tanzbereich.

Nils: Genau. Und im Feierabendverkehr in der U-Bahn ist so etwas nicht besonders schlimm, da steht man halt eng zusammen. Das ist nicht angenehm, aber es wird nicht als Einbruch empfunden. Es gibt einen Grund. Einfach auf der Straße an jemanden nah ranzugehen ist nicht gut. Das ist ein Einbruch in dessen Privatsphäre. Und man überträgt diese Privatssphäre auch auf andere öffentliche Orte. So möchte man auch an öffentlichen Orten privat sein. Dort, wo es einem besonders gut gefällt oder die man sozusagen adoptiert hat, als private Orte, an denen man sich besonders wohl fühlt. Man kann ja auch nur eine kleine Wohnung haben und geht in einen Park und sagt: Hier ist aber auch privat. Hier möchte ich auch nicht beobachtet werden. Hier möchte ich anonym sein und privat. Hier treffe ich vielleicht Freunde oder hier bin ich mit meiner Clique immer zusammen. Das gilt für Jugendliche, die vielleicht zu Hause nicht die Möglichkeit haben privat zu sein, weil die Eltern immer kontrollieren. Die gehen raus in die Öffentlichkeit, wollen aber privat sein, wollen auch die Anderen raushalten, um da das Private zu besprechen.

Ilka: Das ist aber eine schwierige Balance, oder?

Nils: Es ist ganz schwer hier die Waagschale zu halten. Weswegen Videoüberwachung auch immer zweierlei verletzt: die Anonymität und die Privatsphäre. Wobei natürlich die Privatsphäre, die mit rum getragen wird oder die bestimmten Orten zugeschrieben wird, nicht so sehr das Problem der Videoüberwachung sein soll, weil es nichts ist, mit dem sie vorher rechnen konnte. Anders herum gibt es das, was ich einmal ein Paradox genannt habe: Wir haben das Recht uns in der Öffentlichkeit unversehrt und unerkannt zu bewegen. Die Polizei, der Staat, der Videokameras aufstellt, ist primär dazu verpflichtet und dazu da, uns dieses Recht zu gewährleisten. Der Staat soll mich in der Öffentlichkeit schützen und mir gewährleisten, dass ich mich anonym bewegen kann. Nun ist es der gleiche Staat, der um das zu tun, Videokameras aufstellt, die genau das verletzen, das er schützen soll, nämlich meine Anonymität. Ich weiß nicht, ob es eine Lösung dafür gibt?

Die Abschaffung der Kameras; dann würde der Staat sagen: Ich kann nicht mehr deine Anonymität, deine Rechte, deine Unversehrtheit schützen. Oder alles zu überwachen. Dann sagt er: Jetzt bist du geschützt in deiner Unversehrtheit, wir können gucken und dir helfen. Aber ich bin nicht mehr anonym. Also es ist ein ständiges Austarieren zwischen seinen Pflichten und dem wie er das erreichen muss - und meinen Rechten und wie ich meine, dass ich sie verteidigen muss. Das ist eine ganz schwierige, ein elementare Frage, die auch nicht zu beantworten ist mit der Frage nach mehr Freiheit oder mehr Sicherheit. Sondern die man vielleicht beantworten kann, indem man sich fragt wie viel Risiko für wie viel Freiheit zu ertragen ist? Wie viel Sicherheit gibt mir meine persönliche Freiheit? Macht mich das auch sicher im Sinne von Selbstsicherheit, wenn ich eine Art von Freiheit habe? Ist eine Versicherheitlichung aller Lebensbereiche auch immer eine Sicherheit für die Menschen?

Oder bedeutet das - außer der Einschränkung von Freiheiten - nicht auch eine Einschränkung von Sicherheiten? Wenn man sich also ständig bedroht fühlt durch Sicherheitsmaßnahmen, durch einen starkes Auftreten der Polizei, durch Videokameras, durch die ständige Angst die Anonymität zu verlieren, dann hat das auch nichts mehr mit Sicherheit zu tun.

Freiheit und Sicherheit sind für mich ein schwieriges Paar, das man nicht immer so gegeneinander ausspielen sollte und kann, weil es mal zusammen gehört, mal aber auch nicht und manchmal auch das gleiche ist. Dieses Paradox ist das eigentlich schwierige. Die Einführung von Videokameras in das öffentliche Leben zur Herstellung von Sicherheit oder mutmaßlichen Sicherheit durch die gleichen Organe, die mir die Unverletzlichkeit meiner Anonymität, meines Seins und auch meiner Privatsphäre im öffentlichen Raum garantieren sollen, ist schwierig und einfach unbeantwortbar.

Ilka: Zumal die Leute, die es betrifft, sozusagen ja den meisten Satz, den sie sagen: Ich habe ja eh nichts zu verbergen.

Nils: Stimmt das? Haben wir nichts zu verbergen?

Ilka: Ich würde sagen, es stimmt nicht.

Aber mindestens jede zweite Antwort ist genau diese, wenn man fragt: Was halten Sie eigentlich davon? - Naja, egal. Ich mache ja nichts. Und wenn ich etwas machen würde, dann wäre es ja auch gerechtfertigt, wenn dann jemand kommt, mich darauf hinweist und quasi wieder auf die richtige Spur bringt.

Nils: Empirisch ist es vielleicht sogar nachvollziehbar. Persönlich kommen die wenigsten Leute wahrscheinlich in Verbindung oder haben Nachteile von diesen Kameras im Sinne von falscher Verdächtigungen.

Ilka: Weswegen man sich dann schnell anhört wie ein Verschwörungstheoretiker.

Nils: Ja. Man kann aber nicht immer von dem Einzelfall ausgehen. Nur weil Dir und Dir und Dir nichts passiert ist, ist es kein Grund dafür es generell problematisch zu finden. Gesetze werden ja auch nicht dazu gemacht, um jeden Einzelfall zu betrachten, sondern um ein Rechtsgut oder eine Straftat erst einmal pauschal zu regeln.

Haben wir nichts zu verbergen? Das ist eigentlich ein doofer Satz. Weil wir wissen genau, dass wir immer was zu verbergen haben. Es gibt den schönen Aufsatz von Heinrich Popitz mit dem Titel Die Präventivwirkung des Nichtwissens, in dem er beschreibt wie sinnvoll es für unsere Gesellschaft ist, nicht immer zu wissen, was der Gegenüber macht. Und auch nicht immer wissen zu wollen, was er macht. Wenn wir alle von allen alles wissen würden, wäre das eine genau so schreckliche Gesellschaft. Denn viele Bereiche, wo man Geheimnisse hat, sind ja nicht unbedingt kriminell, sind nicht unbedingt negativ. Manchmal hilft ein schönes Guten Tag! und Wie geht‘s dir? - Gut! als Minilüge über den Tag hinweg. Man macht es sich einfach, indem man sagt: Ich habe nichts zu verbergen, filmt mich einfach. Das ist vielleicht auch ein anderer Satz um zu sagen: Ich möchte mich mit dem Thema nicht beschäftigen. Bis jetzt ist mir noch nichts passiert und eigentlich ist es mir egal, also soll es auch allen anderen egal sein. Das ist eine eher egoistische Sichtweise von sich auf andere zu schließen und die ist eigentlich so nicht zulässig.

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